Vom Wachsaal in die Gemeinde  - 50 Jahre deutsche Psychiatrie - na und?

Vom Wachsaal in die Gemeinde - 50 Jahre deutsche Psychiatrie - na und?

Aus Erfahrung besser

Aus Erfahrung besser

Im Mittelpunkt der heutigen Episode steht ein Gespräch mit Doris und Ulf. Beide sind Psychiatrie Erfahrene, Genesungsbegleiter*innen, kritische Betrachter*innen der Psychiatrieszene, die aber mitten im Leben der aktuellen psychiatrischen Versorgung stehen. Sie sind beschäftigt in einer Klinik und in einer gemeindepsychiatrischen Einrichtung als Genesungsbegleiter*in.
Wir reden über die Entwicklung der Psychiatrie-Erfahrenen-Bewegung in Deutschland, über das Projekt „EX-IN“ (ist die englische Abkürzung für Experienced Involvement – Beteiligung Erfahrener). Dahinter steckt die Idee, Psychiatrie-Erfahrene zu bezahlten Fachkräften im psychiatrischen System zu qualifizieren (siehe auch link weiter unten), über die Beziehung zu den Fachleuten in den Einrichtungen, den Kolleg*innen.
Wie viel Augenhöhe leistet sich die heutige Psychiatrie?
Wünsche an eine humane Psychiatrie. Geht es auch ohne Zwangsmaßnahmen? Was gehört sofort abgeschafft?
Wir streifen Medikamente und Psychotherapie.
Welche Rolle spielt Musik für die psychische Stabilität und Genesung?

Und es wird ein zweiter Teil dieses Gesprächs in der nächsten Episode folgen.

Der Musikteil bietet heute eine überraschende Neuigkeit und Christian stellt einen großartigen und sehr sensiblen Künstler vor.

gestern heute morgen

Sich mit den Gräueltaten der NS Diktatur, also der Ermordung der Jüdinnen und Juden, und der Gruppe von Menschen mit psychischen Erkrankungen, geistigen und körperlichen Behinderungen, der Sinti und Roma und sogenannter "Asoziale" zu beschäftigen, ist schwer auszuhalten. Will man/ frau jedoch die Entwicklung der Psychiatrie in Deutschland nach 1945 bis heute verstehen ist es unausweichlich. Es hilft dabei sensibel und wachsam zu bleiben für die ethischen Fragen, der Machtdynamik und den massiven persönlichen Einschränkungen, die in der Psychiatrie bis heute wirksam und die großen Fragen sind.

Im heutigen Musikteil
Im Oktober letzten Jahres erschien unter dem Titel „(R)evolution“ die Biographie eines britischen Künstlers, der Ende der 70er Jahre der elektronischen Syntie-Pop-Musik die Tür in die Musikgeschichte öffnete.
Das Besondere an dieser etwa 450 Seiten umfassenden Biographie, ...der Künstler hatte sie selbst innerhalb von nur sieben Wochen geschrieben. Möglich gemacht durch die freie Zeit, die der Corona Lockdown im letzten Jahr mit sich gebracht hat.

Therapie, Politik und Rhetorik

Heute möchte ich noch einiges mehr über meine Arbeit in der Anfangsphase der Tagesklinik in Köln erzählen. Ein wichtiges Element der täglichen Arbeit war die „Stationsversammlung“. Das war ein tägliches, direkt zu Beginn morgens stattfindendes Gruppengespräch. Daran teilgenommen haben alle 14 Patient*innen einer tagesklinischen Einheit, das gesamte Team (1 Ärztin und 1 Arzt, 1 Sozialarbeiter*in, eine Krankenpflegerin und 1 Krankenpfleger, 1 Ergotherapeut*in und 1 Stationshilfe(?). Das war ja auch gleichzeitig das gesamte Team. Die Leitung und Durchführung der Stationsversammlung lag in pflegerischer Verantwortung. Es war ja ein tagesklinischer Betrieb, was bedeutete- alle Patient*innen kamen morgens um 08:30, hatten dann ein konkretes Gruppentherapieprogramm (das werde ich später noch beschreiben) und gingen normalerweise um 17:00 wieder nach Hause. Nur für den Fall, wenn jemand in eine krisenhafte Verfassung geriet, gab es bei Einverständnis die Möglichkeit die Nacht auf der vollstationären Einheit zu verbringen.
Die psychoanalytische Grundhaltung verführte das Team aber auch immer wieder zu Deutungen und Interpretationen, was bei den Patient*innen jedoch oftmals Widerstände und Unsicherheit auslöste. Das war nicht unbedingt falsch, tat aber auch dem Charakter dieser Gruppensitzung nicht immer gut. Aber der ganze Alltag in der Tagesklinik war schon durch diese spezielle, oft deutungslastige Betrachtung geprägt.
Was von Anfang an in der Arbeit, ja schon in der Gründungsphase (ich habe davon auch erzählt) auch immer eine Rolle spielte, war die politische Situation, in der wir uns ganz allgemein befanden. Die aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen waren in der täglichen Arbeit präsent. War es zu Beginn, die Situation der Sanierung der Kölner Südstadt mit all seinen Facetten der alternativen Kultur und der Verdrängung von alteingesessenen Bürger*innen und damit verbundenen psychischen Belastungen (die wir in der Klinik dann reparieren sollen, anstatt sich politisch auseinanderzusetzen), so waren es jetzt die politischen Auseinandersetzungen und den Widerstand gegen die atomare Aufrüstung in der BRD.
Offener Brief eines Kollegen und die ausführliche Antwort der Betriebsleitung.

Musikteil:
Die Bezeichnung Funny Farm im Text ist eine, im englischen Sprachgebrauch früher übliche Verniedlichung für eine Psychiatrische Klinik bzw. Irrenanstalt.
Einige Ärzte und Institutionen in den USA allerdings fanden den Song gar nicht witzig und waren der Meinung, dass psychische Probleme und Geisteskrankheiten kein Thema von Popsongs sein sollten.
Sie beklagten sich in der Öffentlichkeit, woraufhin große Radiostationen wie z.B. der New Yorker Radiosender WMCA den inzwischen zum Hit gewordenen Song auf den Index setzten, d.h. also ....er wurde nicht mehr gespielt.

Bildung, Ausbildung, Erfahrung

Von frühen Erfahrungen in zwei Kölner Psychiatrie Kliniken erzählt heute Sonja Schlegel. Ihre Perspektive als angehende Sozialarbeiterin schildert sie sehr eindrücklich. Auseinandersetzung mit erfahrenen Kolleg*innen geht sie ein, um dadurch wichtige Erkenntnisse zu bekommen, die sie mitnimmt für ihre berufliche Sozialisation. Aber auch ungeheuer viel fachliches Verständnis nimmt sie auf, um es auch in Zukunft gut einsetzen zu können.

Das Große, das Kleine und das Ganze

Anti AKW Bewegung, Großdemonstration gegen den Bau des Kernkraftwerkes Brokdorf, saurer Regen, Wirtschaftskrise, atomare Aufrüstung und Bedrohung in Europa, die Gründung der Partei „Die Grünen“. Die Republik wurde bunter. Anders als in den späten 1960’er und Anfang der 1970’er, in denen es gesellschaftlich und politisch noch eher ums Skandalieren von Missständen und vermisster Gleichheit ging, waren die 1980’er das Jahrzehnt, in dem wir mit einer Menge politischer und gesellschaftlicher Visionen im Gepäck in den Institutionen ankamen, um sie konkret zu verändern.
Bereits im Oktober 1980 begannen wir mit der Aufnahme eines kleinen Ambulanzbetriebes. Eine kleine Gruppe von Fachkolleg*innen hatte bereits jetzt einen Anstellungsvertrag in der Tagesklinik in Köln und die Anstaltspsychiatrie verlassen.

„Depression kann der Sand sein, der die Perle macht…. " Der Satz stammt von einer großartigen Sing- und Songwriterin, und auch wenn sie selbst in einem Interview die Idee selbst psychisch krank zu sein ausdrücklich ablehnt, kannte sie offensichtlich Zeit ihres Lebens melancholische Gemütszustände mit denen sie sich immer wieder ....sowohl im positiven wie auch im negativen ....auseinandersetzen musste.
In der aktuellen „Musikabteilung“ erwartet Euch heute eine großartige Künstlerin, deren Musik und Leben Euch Christian wie gewohnt näher bringt.

Erinnerungen

Reformen fallen nicht vom Himmel, sondern es gibt immer mehr oder weniger gut erkennbare Entwicklungen dahin ...

Musik ist in unserem Gehirn nicht nur in Bezug auf Emotionen, sondern auch in Bezug auf das Erinnerungsvermögen in besonderer Weise verankert. So reagiert das Gehirn schon bereits nach 100 Millisekunden auf bekannte Songs, und im Vergleich zu anderen Teilen des Gedächtnisses, bleibt das Langzeit-Musikgedächtnis länger intakt und funktionstüchtig. Diese Erkenntnisse sind nicht ganz neu, sind aber in den letzten Jahren durch wissenschaftliche Untersuchungen nachgewiesen worden.

Was ich in diesem podcast versuche zu vermitteln, ist einerseits die Notwendigkeit Geld zu verdienen, um seinen Lebensunterhalt zu sichern, und dadurch allen möglichen Strukturen und deren Zwänge ausgesetzt zu sein.

Einen zweiten Punkt, den ich gerne vermitteln möchte. „Behandlungs“ – und Arbeitsverhältnisse, die ich vorfand, hätten verschiedene Reaktionen auslösen können. Bei mir war es (glücklicherweise) ein tiefes Empfinden von Unrecht und Ungerechtigkeit, auch Empörung und Wut, wieso es solche, zumindest teilweise schlechten Versorgungsbedingungen geben kann. Klar war schnell, hier gehöre ich zur Opposition und ich will mich anderen Kolleg*innen mit kritischem Blick anschließen, um psychisch überleben und etwas verändern zu können.
Angekommen auf dem „Marsch durch die Institutionen“. Angekommen auf die konkrete Erfahrung von Solidarität, die auch betriebspolitisches und gewerkschaftliches Engagement beinhaltet.

Und der dritte Aspekt, den ich gerne vermitteln will, ist der Zustand der Gesellschaft der jeweiligen Zeit, in der man/frau lebt und arbeitet und damit der Zeitpunkt, an dem ich mit meiner persönlichen, biografisch geprägten Haltung (wir waren ja irgendwie auch noch späte Nachkriegskinder) und im Kontext der aktuellen Verhältnisse in Gesellschaft und Politik (für uns hieß das … „mehr Demokratie wagen…“) auf zum Himmel schreiende zutiefst ungerechte Arbeitsverhältnisse stieß, die ja schließlich die Lebens-, Behandlungs- und Versorgungsbedingungen der Anderen, der Patient*innen waren. Aus heutiger Sicht scheint mir wichtig, Teil eines in vielen Bereichen der Gesellschaft begonnenen gravierenden Veränderungsprozesses gewesen zu sein. Das machte stark.

Furchtbarkeit, Fakten, Feststellungen

In der Zeit der Bestandsaufnahme der Missstände der deutschen Psychiatrie in den frühen 1970'er, hatte sich eine später sehr bekannte Journalistin aufgemacht, der Furchtbarkeit zu begegnen, aber auch ganz andere, positive Haltungen gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen zu erfahren. Im Gespräch erzählt sie sehr plastisch, was sie erlebt, gesehen und was sie berührt und in mehrfacher Hinsicht mitgenommen hat. Es ist spannend ihre Geschichten zu hören. Sie das ist Carmen Thomas.

Mother come home

1980 gingen wir raus, um die Psychiatrie in die Gemeinde zu tragen, stießen mit voller Wucht auf Institutionen, Bürokratie, Verwaltung, auf eine ängstliche Öffentlichkeit und dem eigenen hohen Anspruch die Idee eine freiheitliche und demokratische Behandlungs- und Arbeitssituation praktisch umzusetzen. Es war schon in der Planungsphase ein unbeschreibliches Hochgefühl, sich aus dieser Anstalt zu befreien, durch die Umsetzung von Ideen, die Psychiatrie endlich und endgültig für immer so zu ändern, dass ein humaner Ort geschaffen wird. Ein Ort, an dem gleichermaßen die Patient*innen demokratische Be- und Verhandlungsweisen und Lebensbedingungen erhalten werden, die dann diese „neue Psychiatrie“ quasi zu einer „Stätte der Wiedergutmachung“ für all ihr erlittenes Leid und das ihrer Vorgänger*innen, machen wird. Und auch die Beschäftigten sich Arbeitsbedingungen- und Strukturen schaffen werden, die ein gleichberechtigtes, faires über das Betriebsverfassungsgesetz hinausgehende Mitspracherecht und demokratische Miteinander möglich macht. Was für eine Vision!

Einbruch, Ausbruch und Aufbruch

In den frühen neunzehnhundertsiebziger Jahren gab es vereinzelt vorsichtige Initiativen in der deutschen Psychiatrie hin zu Reformgedanken- und vorhaben. Auch hier (wie in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen) prallten alte, verstaubte und selbstherrliche Strukturen auf eine kleine, überwiegend junge, scharf kritisierende Strömung. Studentinnen und Studenten und die Auszubildenden in den Betrieben suchten den Konflikt mit Ausbildungsinhalten, teils geht es dabei aber um ganz grundsätzliche, eher ideologische Auseinandersetzungen. Große Fragen wurden gestellt und diskutiert: was ist denn die Funktion von Psychiatrie? Anderssein einzufangen, zurecht zu biegen, anzupassen, wieder für die Gesellschaft, Arbeit und für den Kapitalismus zu reparieren? Die Psychiatrie gehört schlichtweg aufgelöst.

Weiter geht's

Beschreibung der Entwicklung von Reformen in der Psychiatrie in den 70'ger Jahren. Konkret und persönlich. Gepaart mit einem passenden Musiktitel.